Wäre eine Corona-Impfpflicht sinnvoll?

Irgendwann kommt der Impfstoff. Irgendwann wird er nicht nur für Ärzte, Pfleger und andere First-Line-Responder verfügbar sein, sondern für die Allgemeinheit. Manche haben Horror davor, die meisten warten vermutlich sehnsüchtig darauf, wieder zum normalen Leben zurück zu kommen - und hoffen, dass der Impfstoff der Schlüssel dazu ist. Ein wesentlicher Faktor könnte sein, wie hoch die Impfrate in der Bevölkerung ist. Und hier kommt das Thema Impfpflicht ins Spiel. Wenn wir alle impfen müssen, um alle geschützt zu sein, könnte der gesetzliche Zwang nötig werden. Aber ist das so? Der Vergleich mit den Masern erbringt ein klares "Kommt drauf an" als Antwort.



Ein kurzer Zwischenstand: aktuell gibt es keinen Impfstoff gegen Covid 19 (abgesehen von Russischen PR-Stunts). Zahlreiche Kandidaten sind in Phase 3, der letzten Teststufe vor der Zulassung. Es ist unklar, wie gut ein Impfstoff vor dem Virus schützt, oder welche Nebenwirkungen er hat. Experten rechnen damit, dass es im Frühjahr/Sommer 2021 allgemein verfügbare Impfstoffe gibt.

Was ist mit der Masern-Impfpflicht ?

Im März 2020 hat die Bundesregierung eine Masern-Impfpflicht eingeführt. Dabei ging sie etwas indirekt vor: Schulkinder müssen zur Einschulung geimpft sein, sonst drohen Geldbußen. Das Ziel war es, die Impfquote auf 95 Prozent zu erhöhen. Der Hintergrund ist, dass eine vergleichsweise große Gruppe der Bevölkerung nicht direkt durch eine Impfung geschützt werden kann - Kinder unter einem Jahr kann man nicht impfen. Sie müssen durch die "Herdenimmunität" geschützt werden - durch die Tatsache also, dass ein so großer Teil der Bevölkerung dank einer Immunität den Erreger nicht übertragen kann.

Ich war - und bin - der Meinung, dass die Impfpflicht nicht gerechtfertigt ist. Die Impfquote stieg seit Jahren beständig an, und hätte die 95 Prozent von selber erreicht (sie lag 2019 in einigen Bundesländern bei Erstklässlern bereits bei diesem Wert). Außerdem bin ich der Ansicht, dass bei der Abwägung der Rechte - siehe weiter unten - das Recht des Einzelnen auf körperliche Selbstbestimmung überwiegt. In diesem Fall.

Warum könnte eine Corona-Impfpflicht sinnvoll sein?

Ganz klar: wer vor Corona geschützt sein will, sollte sich impfen lassen. Wer das nicht will, riskiert eine Erkrankung. Das ist sein/ihr gutes Recht. Die Impfpflicht kann man nur dann in Erwägung ziehen, wenn eine "Herdenimmunität" nötig ist. 

Wann ist die Corona-Impfpflicht geboten?

Das Argument gegen eine Impfpflicht ist, dass es das Recht der Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit missachtet. Das ist korrekt - gezwungen zu sein, sich etwas injizieren zu lassen (und ein - geringes - Risiko von Nebenwirkungen auf sich zu nehmen) ist ein ernster Eingriff. Dem muss ein ebenso starker Grund gegenüberstehen, diesen Zwang auszuüben. 

Dieser Grund wird im Fall der Impfung von vier Faktoren beeinflußt: 

  1. Wie groß ist die Gefahr für die Mitmenschen, die vermieden wird? 

  2. Wie direkt ist die Rolle des Einzelnen bei der Gefährdung der Mitmenschen? 

  3. Wie groß ist der Anteil der Menschen, die gefährdet wird? 

  4. Welche Alternativen gibt es, die Gefährdung anderer zu verringern?

Werfen wir einen Blick auf diese Rechnung bei den Masern

  1. Die Letalität bei Masern liegt zwischen 0,01 und 0,1 Prozent - das ist niedriger als die der meisten Grippeerreger (0,2 Prozent)

  2. Die Rolle des Einzelnen bei der Gefährdung anderer ist ausgesprochen indirekt - es muss kein persönlicher Kontakt erfolgen, eine gemeinsam genutzte Türklinke reicht. 

  3. Es sind sehr viele Menschen bedroht - nicht nur die rund eine Million Kinder unter einem Jahr in Deutschland, sondern auch viele Menschen mit Vorerkrankungen. 

  4. Schließlich gibt es nur wenig andere Wege zu verhindern, dass kleine Kinder sich mit Masern anstecken - man müsste jedes Baby in Quarantäne stecken, bis  es geimpft werden kann. 

Ergebnis: Ich denke, dass die geringe Letalität und die indirekte Gefährdung dazu beitragen, dass das Argument pro Impfpflicht bei den Masern nicht stark genug ist, um bei der Rechteabwägung das Recht auf Selbstbestimmung zu übertreffen. Die Impfpflicht ist nicht angebracht. 

Wie ist es bei Corona? Hier gibt es leider ein paar Unbekannte: Wie sicher schützt die Impfung? Gibt es Gruppen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können? Aktuell deutet einiges darauf hin, dass es keine so große Zahl an Menschen gibt, die nicht geimpft werden können. Nehmen wir weiterhin an, dass der Impfstoff guten Schutz bietet. Wie sieht unsere Rechnung dann aus?

  1. Die Letalität liegt irgendwo zwischen 0,5 Prozent und 1 Prozent (das RKI hält sich bedeckt).

  2. Die Rolle des Einzelnen bei der Gefährdung anderer ist wie bei den Masern ausgesprochen indirekt - es muss kein persönlicher Kontakt erfolgen, eine gemeinsam genutzte Türklinke reicht. 

  3. Es sind - mit der oben angesprochenen Annahme - nur wenige Menschen gefährdet.

  4. Es gibt keinen guten Weg, die Ansteckung sonst zu verhindern. Die Lockdowns der ersten Jahreshälfte werden in der kalten Jahreszeit wiederkommen, und vermutlich ist der gute Wille der Menschen spätestens danach perdu, noch einmal lange Zeit in den eigenen vier Wänden zu verbringen.

Ein Nachtrag: die Letalität von Covid-19

Wie gefährlich ist Covid-19? Leider ist diese Frage nicht einheitlich zu beantworten. Denn die Letalität (also der Anteil der tödlich verlaufenden Fälle an der Gesamtzahl aller Erkrankten) ist stark abhängig von der Gesellschaft, in der die Krankheit auftritt. Wie alt sind die Menschen, wie gesund, wie gut ist ihre medizinische Versorgung? Dazu kommt, dass die Letalität schwer zu messen ist. Man müsste die genaue Zahl der Erkrankten wissen - und die ist gerade bei Covid-19 nur schwer zu schätzen. Entsprechend ergeben die Studien zur Letalität verschiedene Werte. Eine, der man methodologisch gut vertrauen kann, stammt aus New York und basiert auf einer Reihentestung von Hunderttausenden von Bewohnern. Die Ergebnisse legen eine Letalität von 0,7 Prozent nahe - also um den Faktor 3 bis 4 höher als die der Grippe. Andere Studien kommen teils auf höhere Werte (bis zu 1 Prozent, zwischen 0,1 und 1 Prozent).

Ein Nachtrag: das Grundrecht der Selbstbestimmung

Für Sie und mich und die meisten Menschen dürfte der kleine Pieks einer Impfung nicht schlimm sein. Sicherlich nicht wert, deswegen einen Aufstand zu machen. Wieso soll das ein so großer Eingriff in die Selbstbestimmung sein? Nun, das liegt offenbar im Auge des Betrachters. Um ein einheitliches Maß zu finden, wie schwer oder folgenlos ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist, hilft es vielleicht, sich ähnlich gelagerte Fälle vor Augen zu führen. Fälle, wo der Staat medizinische Eingriffe erzwingt, die mit einem (geringen) medizinischen Risiko behaftet sind. 

Es gibt davon nicht viele - und das hat seinen Grund. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist sehr weit oben auf der Liste der Rechte.

Fazit: wahrscheinlich nicht nötig, und wahrscheinlich nicht geboten

Wenn man die beiden Rechnungen für die Masern und Covid-19 vergleicht kommt man schnell zum Schluss: bei keiner der beiden Krankheiten gibt es einen deutlich erhöhten Anlass zu einer Zwangsimpfung. Covid-19 ist deutlich gefährlicher, dafür entfällt (basierend auf der gemachten Annahme) die große Gruppe der Menschen, die nicht geimpft werden können. Wer der Meinung ist, dass die Impfpflicht bei den Masern richtig ist, wird vermutlich auch die für Covid-19 gutheißen. Wer - wie ich - das Recht auf Selbstbestimmung stärker gewichtet, wird in beiden Fällen gegen eine Impfpflicht sein.

Sie ist vermutlich nicht nötig. Der "Herdenimmunitätseffekt" braucht nicht 100 Prozent Immunität. Vermutlich nicht mehr als 70 Prozent, vielleicht sogar nur 20 Prozent. Wenn man annimmt, dass 90 Prozent der Geimpften immun sind (bei der Masernimpfung liegt der Wert bei 98 Prozent) reicht es also, wenn sich 77 Prozent der Menschen impfen lassen. Dazu ist - siehe den hohen Wert der Masernimpfung vor der Impfpflicht - kein Zwang nötig.

Dieses Urteil setzt zwei Annahmen voraus: das Fehlen großer Bevölkerungsgruppen, die nicht geimpft werden können, und die gute Wirksamkeit des Impfstoffs. Wir werden in den nächsten Monaten mehr darüber erfahren. Halten wir die Daumen gedrückt.

Ein letzter Nachtrag in eigener Sache

Ich bin davon überzeugt, dass Impfungen gut, sicher und wichtig sind. Sie sind eine der größten Erfindungen der Menschheit. Ich bin umfassend geimpft, lasse meine Kinder impfen, und empfehle das jedem anderen. 

Sämtliche Kommentare, die sich um die Themen "Impfmafia", "Gewinne der Pharmabranche", "Bill Gates" oder "Merkel-Diktatur" befassen, werde ich unkommentiert löschen. Das ist Bullshit.

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