Kinder allein lassen dürfen nur moralisch einwandfreie Eltern

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Kinder alleine lassen darf nicht jeder.
Kinder dürfen heute weniger als früher. Eltern gelten eher als verantwortungslos, wenn sie ihre Kinder alleine lassen. Was in der Kindheit der Eltern normal war (einen Nachmittag alleine irgendwo draußen unterwegs) gilt heute oft als unmöglich. Was hat sich geändert? Und ist die Angst um fremde Kinder gerechtfertigt? Ein paar Zahlen und eine neue Studie deuten an: Nein. Kinder sind sicherer als je zuvor. Es ist etwas anderes, dass die neue Angst um Kinder schürt - und dass auch andere Ängste (Terror, Gentechnologie, Schwule und Lesben, Transgender) beeinflußt.



Zuerst die Fakten: Eltern werden in den USA und auch hierzulande leicht als verwantwortungslos gebrandmarkt. Kinder im Auto sitzen lassen? Geht gar nicht. Es droht der Hitzeschlag. Egal, ob die Sprößlinge als genug sind, das Auto zu verlassen und sich gegenüber eine Cola zu kaufen, wenn es warm wird. Dabei sind Kinder sicherer als je zuvor. Die Zahl der Todesfälle durch Gewalt geht zurück, um mehr als die Hälfte in zehn Jahren. Die häufigsten Todesursachen für Kinder sind nicht etwa Mord, Totschlag oder Drogen, sondern Verkehrsunfälle und Krebs.

Darf man Kinder allein lassen? Kommt drauf an, warum...

Wer sich also einmischt und Eltern einen Vorwurf macht, weil sie ihren Kindern Freiheiten geben (oder sich selber eine Auszeit gönnen), der tut dies im Regelfall nicht aus der Realität einer erhöhten Gefahr heraus. Eine aktuelle Studie der University of California, Irvine beleuchtet die Frage, welche Faktoren unsere Risikoeinschätzung beeinflussen. Zu diesem Zweck ließen sie zwei fiktive Situationen auf ihr Gefahrenpotential für ein Kind bewerten (ein Baby, 15 Minuten lang alleine gelassen im Auto in der Tiefgarage; eine Achtjährige alleine gelassen im Starbucks). Der Clou: es gab verschiedene Versionen der Geschichte, bei denen sich die Motivation der Eltern voneinander unterschieden. Einmal waren sie Arbeiten, einmal hatten sie eine Affäre, einmal ein Ehrenamt usw.).

Vernünftig betrachtet sollte dieser Grund keinen Einfluss auf das Risiko für die Kinder haben. Doch es zeigte sich, dass die Probanden es anders sahen: je selbstsüchtiger die Beweggründe der Eltern, desto riskanter wurde die Situation bewertet. Das Baby, dessen Mutter/Vater 15 Minuten lang eine Affäre hatte (ein rechter Quickie, nebenbei bemerkt) war in größerer Gefahr als das, dessen Mutter in der Suppenküche 15 Minuten lang Essen an Obdachlose verteilte.

Risiken werden im Bauch bewertet, nicht im Kopf

Mit anderen Worten: wie üblich sind Menschen nicht gut darin, Risiken zu bewerten. Das gilt auch beim Alkohol in der Schwangerschaft, bei der Terrorgefahr, bei Impfungen. Es gibt ein paar Gründe, warum beim Thema Eltern und Fürsorge die Wahrnehmung besonder stark verzerrt ist: die Geschichten von den wenigen, erschreckenden Fällen bleiben viel besser im Gedächtnis und werden Medial weiter verbreitet, sind kaum rational zu diskutieren. Waren die Eltern des Kindes fahrlässig, dessen Sturz die Tötung des Gorillas Harambe auslöste? Mit der Frage kann man schon mal den sonntäglichen Kaffe&Kuchen-Besuch bei Verwandten ruinieren.

Schuldgefühle bei Eltern?

Für Eltern unserer Generation kommt noch ein weiterer Faktor zum Tragen: im Gegensatz zu unseren Eltern hat sich die Lebenssituation geändert. Mütter bleiben seltener ganztags daheim. Doppelverdiener werden immer mehr zum Normalfall. Wir können für unsere Kinder nicht mehr so viel da sein. Das Elternbild, dass wir erlernt haben, können wir nicht einhalten.

Diese Situation belastet sicher einige Mütter, und auch viele "Neue Väter". Dass sie darauf mit erhöhter Sorge um ihre Kinder reagieren, bei der Vorsicht lieber übertreiben, scheint mir logisch.

Moral und Gefahr - ein Rezept für populistische Politik

Die Tatsache, dass wir Risiken nicht gut verstehen, und dass unser moralisches Empfinden uns einen Streich spielt und die Wahrnehmung weiter beeinflusst, sollte uns zu denken geben. Welche Sorgen treiben unsere Gesellschaft gegenwärtig, bei denen wir uns fragen sollten, ob wir nicht moralgetrieben die Fakten falsch interpretieren? Die Terrorgefahr ist sicher ein solcher Fall, auch die Angst vor Übergriffen durch Flüchtlinge, ebenso der Kopftuch-Streit. Genmanipuliertes Essen, die Risiken von Glyphosat, die Handystrahlung - alles komplizierte Themen, die ein Laie kaum und ein Fachmann nicht zweifelsfrei einschätzen kann.

Vielleicht ist es eine Faustregel für das Leben: Wann immer es um eine Gefahr geht - immer erst mal nachdenken, ob man persönlich eine moralische Seite sieht. Wenn dem der Fall ist ("Eingriffe in das Erbgut sind unnatürlich und falsch") sollte man In Dubio Pro Reo für die Gegenseite entscheiden. Bei den Kindern anderer Eltern gilt das sowieso.


Foto von Lorenz kerscher at English Wikipedia - Transferred from en.wikipedia to Commons., CC BY-SA 3.0https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1920056



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